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Zusammenleben mit jüdischen Mitbürgern in Brakel um 1930 und davor

Von 1895 sind die folgenden Textpassagen der „Allgemeinen Zeitung des Judentums (59. Jg., Nr. 51 vom 20. Dez.):

  • Auch in unserem kleinen Städtchen Städtchen kennt man Gottlob die Giftschlagen des ‚Antisemitismus‘ nicht. Die verschiedenen Konfessionen leben ruhig und friedlich nebeneinander und vertragen sich ganz gut.
  • Zum Vorhaben Kriegerdenkmal (1895 realisiert): Gelegentlich der letzten Sedanfeier regten einige Mitglieder des hiesigen Kriegervereins die Errichtung eines Kriegerdenkmals an. In der sofort angelegten Liste waren bald 2000 M. eingezeichnet. Dass sich an diesen Zeichnungen auch die zahlreichen israelischen Vereinsmitglieder, sowie Israeliten hiesiger Stadt überhaupt, wie sich das gehört, betheiligten, versteht sich eigentlich von selbst und bedarf kaum besonderer Erwähnung.
  • In der am 11. November d. J. hierselbst stattgehabten Stadtverordnetenwahl wurde Herr Alex Flechtheim von hier gewählt; seit einem Viertjahrhundert hatte hier kein Israelit in den städtischen Verwaltungskörpern gesessen. Das, was dieser Wahl aber eine erhöhte Bedeutung verleiht, ist der Umstand, dass Herr Flechtheim von der Elite der christlichen Bevölkerung als Kandidat aufgestellt und fast einstimmig gewählt wurde. Alex Flechtheim (1845-1912).

Ein Kapitel des Buches Engemann und Ernst 1988 [1] berichtet über die wirtschaftliche, gesellschaftliche und persönliche Stellung dieser Personengruppe in Brakel um 1930. Auf 20 Seiten werden einzeln Personen vorgestellt, Erinnerungen von beiden Seiten. Brakeler Zeitzeugen [2] kommen zu Wort und sind im Buch vermerkt.

Daraus die folgenden Textstellen:

  • Die Mitwirkung von Juden in Vereinen und Einrichtungen wird dokumentiert (siehe Kriegerverein, Heimatverein, Feuerwehr)
  • Sally Liebenberg [3] ist Mitglied im Elternbeirat der Brede (S. 80)
  • Josef Weiler (1838-1923) und Hermann Weiler (1870-1933) als Mitglied und Förderer der Feuerwehr (S. 80-81)
  • [Julius oder Albert] Lobbenberg als Sieger im Gespannfahren beim Turnier des Reitervereins in Rheder (S. 81)
  • Im Orchesterverein spielten drei jüd. Mitglieder „an hervorragender Stelle“: Dr. Oskar Heineberg [4], Martin Heineberg (Bruder) und Walter Liebenberg (Sohn von Sally Liebenberg). Der Orchesterverein wurde zugunsten der Stadtkapelle aufgelöst (S. 82)
  • Bei besonderen Anlässen spendeten die jüdischen Geschäftsleute großzügig. Spenden von 100 RM waren zur 1000 Jahrfeier [1929] nicht selten (S. 84) .
  • Beim großen Stadtjubiläum 1200 Jahre Brakel im Jahr 1929 waren der Vorsteher der israelischen Gemeinde S. Liebenberg im Ehrenausschuss und Margarethe Weiler im Ausschuss für Musik und Festspiel.   

Von den Zeitzeugen kamen auch diese Aussagen und kleinen Geschichten ins Buch 1988 (S. 84):

  • In den jüdischen Geschäften wurde man sehr kommunikativ bedient. Der Geschäftsinhaber lobte die artigen Kinder der Kunden und versprach sie einzustellen. Sei Motto lautete: Immer etwas anbieten, auch wenn man das Gewünschte nicht hat. Damit kann man immer etwas verkaufen und auch verdienen‘.
  • „Von Albert Rose stammt der Spruch: Zum Kaufen muss man die Leute nötigen, zum Bezahlen kann man die Leute zwingen‘“.  
  • Auch Humorvolles ist in Erinnerung. 1927 arbeitete ein jüdischer Anstreichermeister im Haus des David Heinemann in der Bahnhofstraße. Es herrschte Arbeitsknappheit. Deshalb sagte der Meister zu seinem christlichen Mitarbeiter: Wir müssen sehen, dass wie den ganzen Winter in diesem Hause die Malerarbeiten und das Tapezieren hinausziehen. So schön warm haben wir es sonst nirgends. So legt ein Jude selbst einen anderen Juden herein“.

Es folgen zwei Briefe in Handschrift (undatiert)

  • Ein Erinnerungsbericht besonders über die jüdischen Nachbarn der Ostheimer Straße und Schoppenstiel (S. 85-88)
  • Von der jüdischen Emigrantin Selma Sternstein, geb. Liebenberg (USA,  S. 90-93). Selma L. war Tochter des Kaufmanns David Liebenberg (Osth. Str. 7), eh. Bredenschülerin mit Erinnerungen an Schulkolleginnen. Sie war mit den Schwestern Legge (Haus Legge, Osth. Str. 8) gut befreundet und auch dort im Haus gern gesehen. Sie spricht von ihrem “Kindheits- und Erinnerungsparadies“, aus dem man nicht vertrieben werden kann und an die Geschwister Legge gerichtet: Ihr wart alle gut gläubige Menschen, die in der traurigen Zeit […] sauber und gut geblieben seid“.
    Sie erinnert sich gerne an die Nachbarn in der Ostheimer Straße Tensi (Nr. 9), Kromme (Nr. 11), Laurenz Meyer (Nr. 5), Geisen, Salzmeier, Sander (Nr. 2) u. a.

Anmerkungen, Literatur

[1] Herbert Engemann, Ulrich Ernst (1988): Nationalsozialismus und Verfolgung in Brakel – Dokumentation und Kommentar. Herausgegeben von der Stadt Brakel. Druck Hillebrand, Beverungen (S. 75-99)

[2] Eine Reihe von Zeitzeugen wurde Mitter der 1980er Jahre befragt, so die Autoren im Vorwort S. 5. Sie machten dabei „die bestürzende Erfahrung“, dass sie auf Erinnerungen nicht gerne angesprochen wurden, von „Hemmungen“ und „Angst“ ist die Rede. Eine Liste der befragten Zeitzeugen ist erstellt worden. Deshalb sei „Zur Vermeidung von Konflikten die Liste der Befragten im Stadtarchiv hinterlegt worden […]“. Von einer solchen Liste ist allerdings nichts bekannt (Auskunft Stadtarchiv, Herr Brassel 2021).      

[3] Der Name Sally (Salli) ist vom Vornamen Salomon abgeleitet. Alte traditionell männliche jüdische Vornamen sind Aaron, Daniel, Israel, Levi, Nathan

[4] Dr. Oskar Heineberg „kam manchmal erst zur Aufführung aus Berlin und spielte alles vom Blatt. Von ihm ist der Spruch überliefert: ‚Wir sind durch das Rote Meer gekommen, wir kommen auch durch die braue Sch…!“ (S. 81)